Die Erhöhung des Bürgergelds erregt die Gemüter. Eine nüchterne Berechnung von Grenzkosten und Grenznutzen zeigt: Arbeit lohnt sich selbst für Gutverdiener oft kaum noch – und das liegt nicht nur an großzügigen Transferleistungen.
Das neue Jahr beginnt gut für Bürgergeldempfänger: Um über 12 Prozent werden die Transferzahlungen erhöht – das ist gut doppelt so viel Plus wie für Tarifbeschäftigte (5,6 Prozent im Durchschnitt) und 3,5-mal so viel wie für Rentner (3,5 Prozent). Wer Bürgergeld bezieht, ist so tatsächlich in der Lage, seinen Lebensstandard gegenüber 2023 zu steigern, während die Kaufkraft von Angestellten bei einer Inflation von 6 Prozent laut IfW bestenfalls stagniert und Rentner letztlich deutlich weniger im Geldbeutel haben.
Diese Kluft sorgt für erhebliche Spannungen und hitzige Debatten – umso mehr in einer Haushaltskrise, in der Steuern erhöht und Subventionen gestrichen werden, derweil mehr Steuergelder als geplant in den Sozialetat fließen. Im Zentrum der Debatte steht die Frage, ob das Bürgergeld falsche Anreize setzt und einen unfairen Wettbewerb zur Lohnarbeit schafft.
Denn 72 Prozent der Bürgergeldempfänger weist die Bundesarbeitsagentur als arbeitsfähig aus. Das sind knapp 4 Millionen – immerhin ein Zwölftel aller Menschen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland und laut DIHK genug, um jede unbesetzte Stelle im Land gleich zweimal zu füllen.
Da die Zahl der arbeitsfähigen, jedoch nicht arbeitenden Empfänger um fast 6 Prozent gestiegen ist, seit vor einem Jahr das Bürgergeld Hartz IV ablöste, lässt sich die Sorge nicht von der Hand weisen, dass dem Arbeitsmarkt durch Fehlanreize Menschen entzogen werden, während sich die Schuldenlast der öffentlichen Haushalte weiter erhöht.
Weg von den Anekdoten und ran an die Daten!
Die Diskussion hierüber wird jedoch meist sehr anekdotisch geführt: Linke malen anklagend das soziale Elend unverschuldet in Notlagen geratener Menschen aus, während Konservative empört Beispiele arbeitsscheuer Absahner präsentieren, die sich gerne fürs Nichtstun alimentieren lassen möchten. Solche Diskurse bringen uns nicht weiter, da garantiert jede Seite für ihr Plädoyer immer passende Vorzeigefälle finden wird.
Wollen wir diesem Thema ernsthaft auf den Grund gehen, müssen wir eine nüchterne, datengetriebene Betrachtung wählen, die von zwei Grundprämissen ausgeht: einerseits, dass eine Basisabsicherung gegen Hunger, Obdachlosigkeit und soziale Ausgrenzung in einem immer noch wohlhabenden Industrieland selbstverständlich ist und sozialen Frieden sichert. Andererseits, dass Arbeit und Eigeninitiative immer belohnt werden müssen, sofern wir eine Marktwirtschaft bleiben und Wohlstand steigern wollen.
Entscheidend für die Motivation zu arbeiten sind Grenznutzen und Grenzkosten
Die entscheidende Frage ist: Wie hoch muss dieser Mehrertrag ausfallen? Hier klingt die Debatte aus einer ökonomischen Perspektive bestürzend naiv: Denn gestritten wird immer nur über die Frage, ob man mit Bürgergeld am Ende mehr Geld zur Verwendung hat als mit einer Arbeitsstelle. Solange man unterstellt, dass Bürgergeld für ein Leben am Existenzminimum ausreicht – und der Staat ist qua Bundesverfassungsgerichtsurteil verpflichtet, dies sicherzustellen –, ist eine Betrachtung der absoluten Beträge aber unsinnig, da man eben auch ohne Arbeit nicht unter ein bestimmtes Minimum fallen kann.
Fragen wir uns, ob der Abstand zwischen Löhnen und Bürgergeld ausreichend ist, um zur Erwerbsarbeit zu motivieren, dann müssen wir vielmehr auf den Grenznutzen und die Grenzkosten von Arbeit blicken. Das bedeutet: Was bekomme ich für jede weitere Stunde Arbeit, die ich leiste, mehr, als wenn ich sie nicht leisten würde – und was muss ich dafür tun? Wenn ich zum Beispiel statt 0 Stunden im Monat 133 Stunden im Monat arbeite – die durchschnittliche reale Arbeitszeit eines Vollzeitangestellten – und damit 300 Euro mehr im Portemonnaie habe als mit Bürgergeld, liegt mein Grenznutzen pro Stunde Lohnarbeit bei 2,25 Euro. Da mit der Arbeit jedoch auch Grenzkosten verbunden sind – wie zum Beispiel Arbeitsmaterialien, das Pendeln zur Arbeitsstätte oder das Essen außerhalb –, schmälern diese meine Bilanz weiter. Rein ökonomisch betrachtet gibt es so für mich praktisch keinen Anreiz, zu arbeiten.
Betrachtet man es aus dieser Warte, wird deutlich, dass das Problem mitnichten nur gering bezahlte Tätigkeiten betrifft, wie oft von der politischen Linken kolportiert wird. Weil zahlreiche weitere Unterstützungsleistungen mit dem Bürgergeld verbunden sind, liegt beispielsweise die reale Kaufkraft einer Familie mit fünf Kindern (drei in Ausbildung, zwei zu Hause) selbst bei einem Jahresbrutto von satten 130.000 Euro um nicht einmal 400 Euro monatlich höher als mit Bürgergeld. Der Fall mag konstruiert wirken – wenn ich auch selbst Vater von fünf Kindern bin –, zeigt jedoch, dass das Grenznutzen-Problem beileibe nicht nur im Niedriglohnsektor existiert, insbesondere für größere Haushalte.
Wie bestimmt man eine angemessene Differenz von Nettolohn zu Bürgergeld?
Wie aber sollte eine Differenz zwischen Grundsicherung und einer Arbeitsstelle ausfallen, damit Arbeit als lohnend gilt? Objektiv lässt sich diese Frage nicht pauschal beantworten: Auf der einen Seite geht mit einem Job natürlich meist mehr Sozialprestige einher, und die erlebte Selbstwirksamkeit stärkt die Lebenszufriedenheit und psychische Gesundheit – Faktoren, die den Grenznutzen von Arbeit erhöhen. Auf der anderen Seite ist körperlicher und psychischer Stress bei der Arbeit eines der größten Gesundheitsrisiken im Land, und weitaus nicht jede Stelle vermittelt Selbstwirksamkeit – was wiederum die Grenzkosten steigert bzw. den Grenznutzen senkt.
Es wäre aber feige und wenig zielführend, sich deswegen vor einer Antwort zu drücken. Daher stelle ich einen Vorschlag in den Raum: Setzen wir doch jene Marke an, die parteiübergreifend als Untergrenze für die Wertschätzung von Arbeit festgelegt wurde – den Mindestlohn von 12,41 Euro brutto pro Stunde. Wenn ein Arbeitgeber Arbeit nicht schlechter entlohnen darf als mit diesem Satz – sollte dann auch ein Arbeitnehmer nicht mindestens diesen Betrag für jede Stunde mehr erhalten, die er arbeitet, als die er nicht arbeitet? Wenn es das Ziel ist, zur Annahme einer Lohnarbeit zu ermutigen und Schwarzarbeit als alternative Quelle jenseits der Grundsicherung einzudämmen, erscheint mir dieses Gedankenexperiment sinnvoll und nachvollziehbar.
Wirklich lohnt sich Arbeit nur noch für Topverdiener
Lassen wir uns doch einmal darauf ein und rechnen. Wählen wir dabei den für das Bürgergeld günstigsten Fall eines kinderlosen Singles. Soll sein Grenznutzen für 133 Stunden geleistete Arbeit (statt 0) in Höhe des Mindestlohnes liegen, so entspricht dies 1455 Euro netto. Hier muss man jedoch noch die Grenzkosten in Abzug bringen: Sofern er nicht mit einem bereits vorhandenen Computer ausschließlich von zu Hause arbeitet, entstehen ihm monatlich 75 Euro Pendelkosten und 70 Euro Mehrkosten für Verpflegung und Arbeitsmittel, sofern man hier die reichlich niedrigen Sätze der Finanzämter verwendet. Die reale Differenz zum Bürgergeld muss damit 1600 Euro netto betragen, damit sich rein rational betrachtet eine Lohnarbeit gegenüber dem Bürgergeld in einer Weise rechnet, die dem Mindestlohn entspricht.
Nehmen wir an, unser Beispielbürger wohnt in einer 40 Quadratmeter großen Einzimmerwohnung in Frankfurt, die exakt im Mietspiegel liegt, so bekäme er monatlich 1643 Euro Bürgergeld als Boden, unter den er im ersten Jahr nicht ohne weiteres fallen kann, während ihm ab dem zweiten Jahr 425 Euro weniger für die Miete überwiesen würden. Damit jede Stunde Erwerbsarbeit ihm demgegenüber mindestens den Mindestlohn einbringt, müsste er folglich 3243 Euro Nettogehalt erzielen, was einem Bruttoeinkommen von 5300 Euro im Monat entspricht. Hiermit zählte er zu den 10 Prozent der Topverdiener in diesem Land.
Das Problem ist der extreme Unterschied zwischen Bruttolohn und Netto-Kaufkraft
Die Betrachtung von Grenznutzen und Grenzkosten zeigt somit deutlich, dass man nicht lange suchen muss, um eklatante Fehlanreize in der derzeitigen Diskrepanz zwischen Lohnarbeit und Bürgergeld aufzudecken. Klipp und klar ausgedrückt erzielt der überwältigende Großteil der Bevölkerung mit seiner Arbeit gegenüber dem Bürgergeld einen Mehrertrag, der – umgerechnet auf die Arbeitszeit und die Kosten der Arbeit – deutlich unter dem Mindestlohn liegt. Das ist das glatte Gegenteil zu dem von Bundeskanzler Scholz versprochenen „Respekt für deine Arbeit“.
Dass dieser Effekt so dramatisch ausfällt, liegt dabei weniger im Bürgergeld-Regelsatz selbst begründet. Vielmehr treffen hier mit gewaltiger Wucht zwei Extreme aufeinander: Auf der einen Seite wurde die Förderung für Bürgergeldempfänger immer weiter über die Basissätze hinaus ausgedehnt – von der kompletten Übernahme jeglicher Wohnungsmiete im ersten Jahr über Heizkosten bis zu den Sozialversicherungen, dem Entfall von Kitagebühren, dem Stellen von Wohnungsausstattung und vielem mehr. Auf der anderen Seite ist die Abgabenlast auf Löhne und Gehälter in Deutschland die höchste der Welt, und die Inflation betrifft gerade arbeitsbezogene Kosten wie Strom, Treibstoff und Außer-Haus-Verpflegung überproportional.
Der extreme Unterschied zwischen Brutto- und Nettogehalt und eine arbeitnehmerfeindliche Schlagseite in der ohnehin problematischen Inflation sind dementsprechend mindestens ebenso große Faktoren wie ein großzügig angesetztes und noch großzügiger erhöhtes Bürgergeld, um Arbeit für eine Mehrheit der Menschen ökonomisch unattraktiv zu machen.
Steuern, Sozialabgaben, Inflation: Die Regierung muss Arbeit attraktiver machen
Nachdem das Problem nun ausgemessen ist, müssen wir über eine Lösung sprechen. Selbstverständlich kann diese nicht heißen, das Bürgergeld um 1600 Euro – und damit in unserem Fall auf 0 – zu senken. Ein menschenwürdiges Existenzminimum muss immer von der Gesellschaft gewährleistet werden, außer vielleicht in extremen Fällen von mutwilliger Schädigung des Gemeinwohls. Es ist aber durchaus zumutbar, die zahllosen Zusatzleistungen auf die Probe zu stellen und vor allem wieder deutlich stärker an die aktive Arbeitssuche, die Annahme von Jobangeboten oder die Leistung gemeinnütziger Arbeit zu binden.
Auf der anderen Seite ist völlig klar, dass der primäre Hebel bei den Steuern und Abgaben liegt: Die Belastung von Erwerbsarbeit muss deutlich auf ein international wettbewerbsfähiges Niveau sinken, damit sich Arbeit schneller lohnt. Dies erfordert eine deutliche Senkung der Lohnsteuer insbesondere für normale Einkommen und eine fundamentale Reform der Sozialversicherungen, um sie demografiefest und wesentlich effizienter zu machen.
Diesen Hebel zu bedienen und den Bürgern mehr Netto vom Brutto zu ermöglichen, ist umso dringlicher, als bei den Bruttogehältern nur moderat Luft nach oben bleibt: Deutschland liegt in Europa bereits auf Platz 5 und an der Spitze der Flächenländer – der Vergleich mit Luxemburg oder der Schweiz ist nicht wirklich fair –, zudem steckt das Land in einer Rezession als Wachstums-Schlusslicht unter allen Industriestaaten der Welt. Nicht zuletzt auch unter diesem Blickwinkel muss eine Regierung, die Anreize für mehr Arbeit schaffen möchte, auch eine weitere Verteuerung von Strom, Treibstoff und Außer-Haus-Verpflegung verhindern, statt sie voranzutreiben.
Die Bürgergelderhöhung ist eher Symptom als Ursache
Alles in allem sind das Bürgergeld und seine großzügige Erhöhung mitten in der Rezession durchaus zu Recht Stein des Anstoßes: Denn für breite Bevölkerungsschichten sinkt der Grenznutzen von Arbeit somit weiter, der Staat kommuniziert einen eklatanten Mangel an Respekt vor Erwerbsarbeit. Es ist durchaus plausibel – wenn auch im Rahmen dieses Artikels sicherlich nicht erwiesen –, dass dies zu einer steigenden Zahl an eigentlich arbeitsfähigen Transferempfängern führt und so den Arbeitskräftemangel ebenso verstärkt wie die Staatsverschuldung.
Doch die Schere ist zu groß, als dass man sie durch Kürzungen oder Regelverschärfungen beim Bürgergeld schließen könnte – auch wenn dies mit Augenmaß ein kleinerer Teil der Lösung sein kann. Das gestiegene und an weniger Auflagen gekoppelte Bürgergeld führt vielmehr ein bereits zuvor bestehendes Problem noch deutlicher vor Augen: die maßlose Abgabenlast auf Arbeit in Deutschland – und eine Politik, die mit Erwerbsarbeit verbundene Kosten überproportional in die Höhe treibt.
mit freundlicher Genehmigung von Cicero online – dort veröffentlicht am 28. Dezember 2023
https://www.cicero.de/
Jan Schoenmakers www.haseundigel.com