Schon vor den letzten Landtagswahlen im vergangenen Jahr in drei neuen Bundesländern entbrannte eine Diskussion um das Wählerverhalten, insbesondere um die Frage, warum so viele Wähler der AfD zuneigen, obwohl die rechtsextreme Ausrichtung in dieser Partei nicht zu übersehen ist. Schließlich wurden die Wahlergebnisse zusätzlich problematisch durch das gute Abschneiden einer zweiten Partei, des Bündnis Sahra Wagenknecht, und die Regierungsbildung in den betroffenen Ländern gestaltete sich extrem schwierig. In zwei von drei Ländern kam es zu Minderheitsregierungen, die auf Tolerierung von Oppositionsparteien angewiesen sind. Das Wahlverhalten in den betroffenen Ländern wirft ein Schlaglicht auf die „Befindlichkeit“ der Wähler im Gebiet der ehemaligen DDR, und bei der kommenden Bundestagswahl wird dies erneut eine große Rolle spielen.
Das Buch von Steffen Mau ist in dieser Situation schon deshalb eine gute Hilfe, weil es in einem 20 Seiten umfassenden Anhang einen Überblick über die einschlägigen Publikationen und Feuilletonartikel zum Thema bietet. Zudem verzichtet Mau konsequent darauf, in eine klischeehafte Ossi-Schelte oder ein Wessi-Bashing abzudriften. Vielmehr geht er mit der gebotenen Distanz und wissenschaftlicher Gründlichkeit auf Spurensuche. Er hebt sich damit wohltuend ab etwa von Dirk Oschmanns Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ oder von Katja Hoyer, die mit „Diesseits der Mauer“ eine neue Geschichte der DDR vorgelegt haben will.
Mau führt im Wesentlichen sechs Aspekte an, die das spezifisch andere Verhalten vieler Menschen in Ostdeutschland erklären können:
Zum ersten nennt er die Ossifikation, das ist eine Verstetigung ostdeutscher Eigenheiten im Sinne bleibender Unterschiedlichkeit, die an die Stelle der angestrebten Angleichung getreten ist. Neben dem „Stempel der DDR“ wirkt auch die Vereinigungs- und Transformationserfahrung nach der „Wende“ bewusstseinsbildend. Im Übrigen wirken auch historische Strukturunterschiede aus der Zeit vor Gründung der DDR nach. Mau konstatiert dem Osten eine dramatische Elitenschwäche, zudem spielt die Demographie eine wichtige Rolle, während im Westen die Bevölkerung wächst, schmilzt sie in den neuen Ländern dramatisch ab.
Ein zweiter Aspekt ist die Ausbremsung der Demokratisierungsbemühungen in der späten DDR wie das Konzept der runden Tische im Zuge der eiligen Verhandlungen zum Einigungsvertrag zwischen November 1989 und Oktober 1990. Zudem wurden politische Parteien und kommunale Strukturen ohne den nötigen Unterbau in den neuen Ländern übergestülpt, sie sind nicht organisch gewachsen.
Drittens blieb die von vielen erwartete Revolte der jungen Generation gegen die Älteren, die die SED-Diktatur mitgetragen haben oder sich nicht dagegen gewehrt haben, analog zur „68er Bewegung“ in Westdeutschland und Teilen Westeuropas, bisher aus. Inzwischen lautet die Frage, warum es diesen Impuls bisher nicht gegeben hat und offenbar auch gar nicht mehr geben wird. Dies liegt nach Ansicht des Autors u.a. daran, dass im Zuge der Wiedervereinigung die ältere Generation eher als Opfer des Vereinigungsprozesses und weniger als Mittäter oder Mitläufer der SED-Diktatur wahrgenommen wurde.
Viertens spielt eine ostdeutsche Identität im Sinne einer nachholenden Bewusstseinsbildung eine Rolle, d.h. nicht die ursprüngliche Identität, sondern die tatsächliche oder vermeintliche Herabwürdigung als „Ossis“ in der Zeit nach der Wiedervereinigung führt zu einer neuen Selbstverortung und einem eigenen Selbstbewusstsein.
Fünftens nennt er konkrete politische Konfliktlagen, die in Verbindung mit einer geringen Verwurzelung der Parteiendemokratie in den neuen Ländern zu einem signifikant anderen Verhalten führen.
Und schließlich verweist er auf den – wie er es formuliert – „Allmählichkeitsschaden der Demokratie“, ein Begriff, den er aus der Versicherungswirtschaft entlehnt hat. Damit beschreibt er einen schleichenden Prozess, der – anfangs fast unbemerkt – immer stärker um sich greift und schließlich zu einer fast irreparablen Unterminierung des demokratischen Grundkonsenses führt.
Am Ende plädiert Mau für ein Experiment, welches man in den neuen Ländern starten könnte, nämlich ein Labor der Partizipation, um eine neue Bindung der Bürger an den Staat zu ermöglichen, ein Vorschlag, der trotz einer gehörigen Portion Skepsis interessant sein könnte und der durchaus eine reelle Chance hat, angegangen zu werden. In gewisser Weise findet dies bereits statt, denn in den neuen Ländern werden umfangreiche Erfahrungen mit Minderheitsregierungen gesammelt, ein Phänomen, welches in den alten Ländern weitgehend unbekannt war und ist.
Kurzum: das Buch ist Pflichtlektüre für jeden, der bei diesem Thema fundiert mitreden will.
Steffen Mau, „Ungleich vereint“, Warum der Osten anders bleibt, Edition Suhrkamp, Berlin, 2024, 2. Auflage 2024, ISBN 978-3-518-02989-3, 138 Seiten, 20 Seiten Anmerkungen, 18,50 €, Spiegel-Bestsellerliste